Zur Person
Christine Frauenknecht
Christine Frauenknecht (61) steht seit 46 Jahren auf nationaler und internationaler Ebene als Kunstturn-Kampfrichterin im Einsatz. Bereits dreimal war sie an Olympischen Spielen sowie an 9 Weltmeisterschaften, 16 Europameisterschaften, 2 European Games, 6 European Youth Olympic Games und unzähligen Weltcups dabei – und dies in 36 verschiedenen Ländern.
Beruflich ist die Appenzellerin als Sachbearbeiterin im Rechtsdienst tätig.
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Christine Frauenknecht, dreimal schon durftest du an Olympischen Spielen als Kampfrichterin mittun. Was macht Olympia so besonders?
Christine Frauenknecht: Wie es für die Athletinnen und Athleten das Grösste ist, an Olympischen Spielen teilzunehmen, ist es das auch für uns Kampfrichterinnen und -richter. Wir stehen nicht fürs eigene Land im Einsatz, sondern werden von der FIG (Anm. d. Red.: Internationaler Turnverband) aufgeboten. Damit man aufgeboten wird, muss man in den vier Jahren eines Olympiazyklus genügend Punkte sammeln, um sich zu qualifizieren.
Und wie kommt man zu Punkten?
Indem man an den Weltcups und Weltmeisterschaften gut wertet (lacht).
Wie unterscheidet sich ein Kampfrichter-Einsatz an Olympischen Spielen von dem an anderen Grossanlässen?
Vom Werten her gar nicht. Man gibt an jedem Anlass sein Bestes und bewertet die Athletinnen und Athleten so, wie sie es für die gezeigte Übung verdienen. Aber das ganze Drumherum ist spezieller. Ich bin ein wenig angespannter. Auch die Vorbereitung auf Olympia ist besonders aufwändig.
Wie läuft so eine Vorbereitung ab?
Wir sind eine Gruppe und werten im Voraus verschiedene Übungen von Athletinnen ab Video. In der Covid-Zeit haben wir noch viel mehr solche Übungseinheiten abgehalten als normal. Wir mussten à jour bleiben, solange keine Wettkämpfe stattfanden. Das war sehr aufwändig – auch die vielen Kurse, welche wir angeboten haben.
Welches war bisher dein speziellstes Erlebnis an Olympischen Spielen?
Sicher die Medaillenfeiern von Roger Federer 2012 in London und die von Giulia Steingruber 2016 in Rio. Aber alle Spiele hatten etwas Spezielles. London 2012 sowieso, da dies meine ersten Olympischen Spiele waren. Die Stimmung mitten in der Stadt war genial. In Rio 2016 wohnten wir sehr dezentral. Dennoch war es speziell – das erste Mal in Südamerika zu sein. Und Tokio ohne Publikum sowieso – das hätte auch irgendein anderer Wettkampf sein können. Aber für die Athletinnen und Athleten war es wichtig, dass die Spiele haben stattfinden können. Olympische Spiele sind das Grösste und für viele Athleten und Athletinnen wegweisend für das spätere Leben.
Was hat sich seit deinen ersten Olympischen Spielen 2012 aus deiner Sicht am stärksten verändert?
In sportlicher Hinsicht hat sich seit 2012 die artistische und tänzerische Ausführung der Turnerinnen stark verbessert. In den Stufenbarren-Übungen werden viel mehr Verbindungen geturnt als noch vor neun Jahren.
Du bist seit 36 Jahren international als Kampfrichterin tätig. Wie bist du dazu gekommen?
Als 1971 in Teufen die Kunstturnriege gegründet wurde, begann ich zu turnen. Vier Jahre später machte ich mein erstes Kampfrichter-Brevet. Heidi Näf, damals Kampfrichter-Chefin und Chefin Kunstturnen Frauen im Schweizerischen Frauenturnverband, hat mich gefördert. So durfte ich schon früh Wettkämpfe werten und auch bald den internationalen Kurs absolvieren. Damals habe ich praktisch jeden kantonalen Wettkampf gewertet und auch keine nationale Meisterschaft ausgelassen.
Parallel war ich Kunstturn-Trainerin. Das ist ein grosses Plus. Als Trainerin weiss man, was es braucht, um ein Element turnen zu können. Dadurch hat man auch das Gespür beim Richten. Den Kampfrichterinnen und -richtern, die nicht Trainer sind, fehlt teilweise das nötige Fingerspitzengefühl.
Worin liegt der Reiz dieser Tätigkeit?
Erstmal ist es sicherlich die Leidenschaft für diesen Sport. Wenn du schon als Kind damit anfängst, so immer weiter hineinwachsen und dich steigern kannst. Das ist schon reizvoll. Ausserdem ist es schön, den Sportlerinnen und Sportlern mit konstruktiver Kritik zu helfen, immer besser zu werden. Ich leite gerne Kurse und freue mich, wenn es junge Leute gibt, die man nachnehmen kann. Leider ist die Bereitschaft für eine solche Tätigkeit geringer geworden als früher. Die Wenigsten möchten so viel Zeit in vestieren, ohne etwas zu verdienen. Viele sehen nur den Aufwand dahinter und nicht, was es einem alles gibt.
Wie viele Stunden pro Woche wendest du für das Kampfrichten auf?
Sehr viele. Es ist ja nicht nur die Zeit fürs Richten an sich. Praktisch jeden Abend sitze ich nach der Arbeit noch an den Computer, beantworte Mails und erledige viele administrative Aufgaben. Mindestens 10 Stunden pro Woche wende ich dafür auf. Ich habe mir, ehrlich gesagt, noch nie darüber Gedanken gemacht. Seit 2013 bin ich noch Mitglied im Technischen Komitee von ‹European Gymnastics›. Dieses Amt beansprucht mich sehr.
Interview anlässlich der EM in Basel
Was macht eine gute Kampfrichterin aus?
Man muss zuverlässig sein, sich dauernd weiterbilden und sich mit der Materie auseinandersetzen. Nebst Erfahrung braucht es Genauigkeit, Selbstvertrauen sowie kommunikative Fähigkeiten und international natürlich gute Englischkenntnisse. Wie oben bereits erwähnt, muss man ein gewisses Fingerspitzengefühl und Gespür für die Turnerin haben – und dann natürlich auch das turntechnische Wissen.
Wie lernt man ein so umfassendes Regelwerk wie den ‹Code de Pointage› auswendig?
Da muss man Schritt für Schritt hineinwachsen. Erstmal lernt man die Symbolschrift zu lesen und zu schreiben. Ohne diese kannst du nicht werten. Danach lernst du die allgemeinen und gerätespezifischen Abzüge auswendig. Dann geht es darum, die Übung live, während sie geturnt wird, in Symbolschrift mitzuschreiben und gleichzeitig die Abzüge zu beurteilen. Anschliessend eruiert man den Schwierigkeitswert. Um das zu trainieren, gibt es ein spezielles Programm. Begonnen bei den Pflichtelementen tastet man sich dann sukzessive an immer schwierigere Übungen heran.
Inwiefern hat sich die Richtertätigkeit verändert, gibt es technische Hilfsmittel?
Sie hat sich sehr verändert. Hilfsmittel sind der Code, der alle vier Jahre angepasst wird. Dann gibt es ein sogenanntes Helpdesk, das immer wieder Erklärungen zum Code bietet. Weitere Hilfsmittel sind Videos. Dadurch kann man die Übung in Zeitlupe nochmal anschauen. Man ist daran, eine computerisierte Bewertung zu entwickeln.
In einigen Jahren braucht es dann vielleicht nur noch Kampfrichter, um die Artistik zu bewerten. Das kann der Computer nicht. Ansonsten ist man schon sehr weit. Im Männer-Kunstturnen könnte bereits das meiste per Computer bewertet werden. Ich bin gespannt, wohin die Entwicklung noch geht.
Wie hat sich das Frauen-Kunstturnen in all den Jahren entwickelt?
Die Entwicklung ist enorm und spannend. Früher lernte man zum Beispiel einen Handstand, indem man ihn einfach wieder und wieder probierte. Heute schulst du zuerst die athletischen Voraussetzungen wie das Stützen und die Mittelkörperspannung. Wenn man diese draufhat, kann man das Element. So lautet heute der Grundsatz. Weiter sind heute die Trainingsstunden häufiger und intensiver gegenüber früher. Die Geräte wurden weiterentwickelt und es wurden Hilfsgeräte geschaffen.
Was fasziniert dich am Frauen-Kunstturnen?
Dass es ästhetisch und gleichzeitig athletisch ist. Grundsätzlich gefallen mir die athletischen, spritzigen Turnerinnen besser als die grazilen. Trotzdem soll eine Übung graziös und exakt ausgeführt werden. Das unterscheidet es auch vom Männer-Kunstturnen. Dort braucht es vor allem Kraft.
Wo, meinst du, steht das Frauen-Kunstturnen in zehn Jahren?
Ich glaube, dass die Ästhetik und die Artistik noch stärker gewichtet werden. Und dass immer näher an die Perfektion geturnt wird. Was auch kommt, ist, dass am Balken alle Elemente verbunden werden. Will heissen, dass Stopps und Zwischenschritte wegfallen. Flugelemente und Verbindungen am Barren müssen perfekt ausgeführt werden. Dies muss jetzt geschult werden, denn darauf kommt es in Zukunft an.
Ein internationaler Kunstturn-Anlass, der dieses Jahr noch ansteht, ist der Swiss Cup Zürich am 7. November im Hallenstadion? Dort bist du als Kampfgericht-Chefin im Einsatz. Welchen Stellenwert hat aus deiner Sicht dieser Show-Wettkampf?
Einen extrem hohen. Für die Schweiz und den STV ist das ein sehr guter Anlass, um das Kunstturnen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Paarwettkampf ist etwas Einzigartiges, zudem sehr spannend und er wird jeweils richtig gut inszeniert.
Was ist der Unterschied zwischen dem Werten an einem Ernstkampf und einem Show-Wettkampf wie dem Swiss Cup Zürich?
Da es ein Show-Wettkampf ist, sind alle weniger verbissen als an einem Ernstkampf. Wir werten aber gleich wie an einer Weltmeisterschaft. Auch die Athletinnen und Athleten möchten das Beste zeigen, schliesslich gibt es beim Swiss Cup Zürich auch einen finanziellen Anreiz.
Olympiasieger/-in am Start
Der diesjährige Swiss Cup Zürich findet am Sonntag, 7. November 2021 im Hallenstadion Zürich statt. Neben den speziellen Licht- und Toneffekten garantiert auch der spannende Wettkampfmodus ein Spektakel der Sonderklasse. Je eine Turnerin und ein Turner aus einem Land treten im Paarwettkampf gegeneinander an.
Ihre Teilnahme bereits bestätigt haben die Teams aus Russland (mit den Olympiasiegern Angelina Melnikowa und Nikita Nagorni), der USA, der Ukraine, der Türkei, Frankreich, Deutschland und Italien sowie Schweden.