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Jürg Stahl
Jürg Stahl ist 56 Jahre alt und wohnt mit seiner Frau und seiner Tochter in Brütten. Er ist gelernter Drogist, hat in Winterthur viele Jahre eine Drogerie geführt und ist aktuell Präsident des Stiftungsrats des Schweizerischen Nationalfonds und des Schweizer Drogistenverbandes. Zudem war Stahl politisch aktiv und sass fast 20 Jahre im Nationalrat. Seit 2008 ist er Mitglied des Exekutivrats von Swiss Olympic und seit 2017 Präsident. Jürg Stahl hat auch im Turnsport seine Spuren hinterlassen. Unter anderen war der frühere Kunstturner und Leichtathlet neun Jahre Mitglied des Zentralvorstands des Schweizerischen Turnverbandes und hat während acht Jahren als OK-Präsident den Swiss Cup Zürich verantwortet.
Jürg Stahl empfängt uns in seinem Haus in Brütten in der Nähe von Winterthur. Im Untergeschoss hat er sein Büro eingerichtet. Wenig überraschend ist der Sport an seinem Arbeitsplatz omnipräsent. Auf dem grossen TV-Bildschirm läuft eine Biathlonübertragung. Die Maskottchen der Olympischen Jugendspiele in Lausanne 2020 und der World Games 2023 in Krakau liegen auf dem Tisch. An der Wand hängt ein Bündel mit verschiedensten Akkreditierungen von Veranstaltungen, die Jürg Stahl in den vergangenen Monaten besucht hat. Und in der Ecke befindet sich ein Stehtisch, dessen Arbeitsfläche auf einem Pauschenpferd montiert ist.
Jürg Stahl, 2024 ist dein letztes Jahr als Präsident von Swiss Olympic. Welche Ziele hast du dir gesteckt?
Es gibt noch ein paar Pendenzen, die ich abschliessen möchte. Es stehen beispielsweise noch die letzten Revisionen der Corona-Gelder an. Zudem ist es mir ein grosses Anliegen, dass die Bereiche Ethik und Governance in unseren Mitgliederverbänden und den Vereinen noch stärker implementiert werden. Generell möchte ich das «Schiff Swiss Olympic» nach intensiven und teilweise auch unruhigen Jahren wieder in ruhigere Gewässer führen, damit mein Nachfolger oder meine Nachfolgerin einen ruhigen Start hat.
Du bist seit 2017 Präsident von Swiss Olympic. Was sind die Gründe, dass du nach zwei Legislaturen zurücktrittst?
Der Grund ist ganz einfach: Gemäss Statuten darf man nicht länger als 16 Jahre im Exekutivrat von Swiss Olympic sein. Ich war acht Jahre lang Mitglied und acht Jahre Präsident. Ich darf also gar nicht mehr weitermachen. Das sind die Spielregeln, und daran hält man sich im Sport.
Welches sind die schönsten Erinnerungen aus deiner Zeit als Swiss-Olympic-Präsident?
Dass wir im Jahr 2020 die Youth Olympic Games in Lausanne durchführen durften, war ein Privileg – auch wenn es noch nicht die «grossen» Spiele waren. Dieser Event war für mich etwas vom Eindrücklichsten, das ich erlebt habe. Vor allem auch deshalb, weil es die Schweiz und Lausanne geschafft haben, wunderbare Spiele zu organisieren. Leider aber konnten wir es nach dem Event nicht richtig geniessen und in Erinnerungen schwelgen, wie sich das nach einem erfolgreichen Grossanlass eigentlich gehört.
Warum nicht?
Weil ein Tag nach den Spielen in Lausanne die Stadt Wuhan wegen der Corona-Pandemie abgeriegelt wurde. Was danach folgte und welche Auswirkungen das auf den Sport hatte, wissen wir. Aber zurück zur Frage nach den schönsten Erinnerungen: Neben den Youth Olympic Games war es mein erstes Amtsjahr 2017. Da war ich gleichzeitig auch noch Nationalratspräsident. Eigentlich zwei Ämter, die man aufgrund des Zeitaufwands nicht miteinander kombinieren kann. Aber oftmals konnte ich das Politische und das Sportliche auf meinen vielen Reisen und Auftritten in der Schweiz miteinander verbinden. Ich war aber froh, als das Jahr 2017 zu Ende war. Das war definitiv mein intensivstes Jahr. Ich habe noch nie so wenig geschlafen wie 2017.
Gibt es aus deiner Präsidialzeit Personen oder Begegnungen, die für dich ganz besonders waren?
Ich habe unglaublich viele interessante Menschen kennengelernt. Da ist es schwierig, jemanden herauszuheben. Eine für mich persönlich besondere Begegnung gab es aber am 50-Jahr-Jubiläum von Swiss Athletics. Ich war dort, weil ich eine Grussbotschaft halten durfte. Aus demselben Grund war auch Sebastian Coe, Präsident des Weltleichtathletikverbands, vor Ort. Für mich als ehemaliger Leichtathlet war Sebastian Coe ein Jugendidol. Ich weiss noch ganz genau, wie ich mit meinem Vater im Letzigrund sass und den 800-Meter-Weltrekord von Sebastian Coe live miterlebt habe. Ihn persönlich kennenzulernen, war aufgrund dieser Vorgeschichte einzigartig.
In welchen Bereichen hat der Schweizer Sport in den letzten Jahren die grössten Fortschritte gemacht?
Medaillen sind nicht alles, aber die Tatsache, dass wir an den letzten drei Olympischen Spielen 43 Medaillen und über 100 Diplome geholt haben, ist ein sehr gutes Zeichen. Erfolg an Olympischen Spielen ist immer ein Beweis dafür, dass in einer Sportart über eine lange Zeit gut gearbeitet wurde. In der Schweiz sind wir heute in vielen verschiedenen Sportarten erfolgreich und sind nicht mehr so abhängig von Ausnahmekönnerinnen und -könnern wie früher. Wir haben eine grössere Breite an der absoluten Weltspitze. Das zeigt sich auch bei den Nachwuchswettbewerben.
Was waren die grössten Herausforderungen während deiner Zeit bei Swiss Olympic?
Swiss Olympic hat heute deutlich mehr Geld zur Verfügung als noch vor ein paar Jahren. Das ist sehr schön, aber der Verteilkampf der Verbände um die Gelder ist sehr gross. Da ein transparentes und faires Verteilsystem zu entwickeln, war eine grosse Herausforderung. Und natürlich war Corona auch eine sehr grosse Challenge.
Obwohl der Spitzensport immer professioneller wird, geht es in vielen Sportarten nicht ohne das Ehrenamt. Welchen Stellenwert hat das Ehrenamt bei Swiss Olympic?
Das Ehrenamt ist und bleibt das Fundament des Schweizer Sports. Mir als «Vereinsmeier» ist sehr bewusst, dass es anspruchsvoll ist, genügend Freiwillige zu finden – vor allem für längerfristige Engagements.
Wie fördert Swiss Olympic das Ehrenamt?
Das Ehrenamt ist Teil der Strategie von Swiss Olympic und steht bei der Club-Management-Ausbildung im Zentrum. Dabei handelt es sich um eine Weiterbildung für Funktionäre, die online absolviert werden kann und mit physischen Erlebnissen kombiniert wird. Die Zugriffszahlen auf dieses Ausbildungsangebot sind erfreulicherweise sehr hoch. Aber der Wert von ehrenamtlicher Leistung für die Gesellschaft muss immer wieder kommuniziert werden. Ich versuche, das tagtäglich vorzuleben.
Kommen wir zum Turnsport. Du hast selbst als Kunstturner an Wettkämpfen teilgenommen. Bist du immer noch aktiv?
Im Januar feierte ich mein 10-Jahr-Jubiläum in der Männerriege Brütten. Das Training am Donnerstagabend ist mir sehr wichtig – da muss schon etwas sehr Wichtiges dazwischenkommen, damit ich absage. Im November stand ich zudem erstmals auch an der Abendunterhaltung auf der Bühne, was viel Spass gemacht hat.
Du warst auch viele Jahre beim STV im Zentralvorstand und OK-Präsident des Swiss Cup Zürich. Wie eng verfolgst du das Turngeschehen noch?
Ich verfolge das Turnen immer noch intensiver als andere Sportarten. Es interessiert mich immer noch sehr. Als Präsident des Dachverbandes versuche ich aber, jederzeit gesamtheitlich zu handeln.
Wie beurteilst du die Entwicklung des Turnsports in der Schweiz in den letzten Jahren?
Ich stelle enorme Fortschritte fest. Bei der Elite im Kunstturnen sind wir technisch besser geworden, treten sicherer auf und sind selbstbewusster. Das ist toll. Und zudem finde ich es nach wie vor ein Phänomen – und das zeigt die Vielseitigkeit des Turnsports –, wie unsere Turnfeste praktisch in der ganzen Schweiz ein Erfolg sind. Diese Feste sind wie kleine Olympische Spiele: Menschen aus verschiedenen Regionen messen sich in verschiedenen Sportarten, wobei auch Platz bleibt für tolle Begegnungen ausserhalb des Sports. Gemeinsam viel bewegen – gemeinsam viel erleben.
Wo siehst du in Zukunft die grössten Herausforderungen für den Turnsport?
Wir werden Modelle brauchen, die der Individualität mehr Raum geben. Wir müssen Angebote kreieren, die man unabhängig von einer Mitgliedschaft nutzen kann. Wir haben das Know-how dafür. Wir können beispielsweise ein Winterfit-Training am Samstagmorgen anbieten, das auch Leute besuchen können, die nicht Mitglied im Turnverein sind. Da müssen wir über unseren Schatten springen und interdisziplinärer denken. Turnen ist eine grossartige Basissportart. Dass wir da hin und wieder junge Leute an andere Sportarten verlieren, gehört dazu. Das sollte aber keine Rolle spielen, denn wichtig ist, dass die jungen Leute überhaupt Sport treiben. Und ich bin sicher, sie kommen irgendeinmal wieder zurück; zumindest erinnern sie sich aber positiv an die Momente im Turnverein.
Was macht Jürg Stahl ab 2025, wenn das Kapitel Swiss Olympic abgeschlossen ist?
Das weiss ich noch nicht. Bis jetzt habe ich erst angeordnet, dass ich im Januar 2025 keine Termine annehmen werde. Mal schauen, wie lange ich das aufrechterhalten kann (lacht). Ich schaue mich derzeit um, was in Frage kommen könnte ab nächstem Jahr. Es darf auch gerne mal ein Projekt sein, bei dem ich nicht als Präsident dabei bin, sondern einfach mithelfe.