Ohne Bewertung gibt es keine Sieger

  • 30. Mai 2022

  • Thomas Ditzler/Alexandra Herzog

  • Archiv STV/Heinz Hoenger/Thomas Ditzler

  • Erschienen im GYMlive 2/2022

Die Vorfreude auf die Turnfestsaison ist gross. Neben den Turnenden werden auch zahlreiche Personen, welche die Leistungen bewerten, im Einsatz stehen. Denn: Ohne Richter kein Wettkampf. Und dennoch: In gewissen Disziplinen ist die Situation angespannt.

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Die Turnschweiz bereitet sich auf den Saisonhöhepunkt vor. Nach zwei Jahren Unterbruch sollen diesen Sommer wieder Turnfeste stattfinden. Über das ganze Land verteilt sind von Anfang Juni bis Anfang Juli elf Feste geplant. Ein elementarer Bestandteil kehrt so in den Turnalltag zurück. Damit an den Turnfesten Wettkämpfe durchgeführt werden können, benötigt es unter anderem Kampf- und Wertungsrichter. Denn: «Ohne Richter keine Wettkämpfe», sagt Philipp Moor. Das heutige Zentralvorstand-Mitglied blickt auf eine jahrelange Wertungsrichter-Erfahrung zurück. Moor war unter anderem Ausbildungsverantwortlicher Richter im Vereinsgeräteturnen.

Tausende Richterinnen und Richter ermöglichen jedes Jahr, dass Turnwettkämpfe realisiert werden.

Auch der Verein profitiert

Tausende Richterinnen und Richter ermöglichen jedes Jahr, dass Turnwettkämpfe realisiert werden können. Von diesem Engagement zehren aber nicht nur die Wettkämpfe, sondern auch die Vereine, deren Mitglieder sich als Richter zur Verfügung stellen. «Ein Wertungsoder Kampfrichter kennt die Bewertungskriterien seiner Sportart bestens. Von diesem Wissen profitiert auch der eigene Verein», sagt Moor. Dank ihres Wissens bringen Richterinnen und Richter eine weitere Sichtweise in den Verein ein. «Das stärkt wiederum den eigenen Verein», meint er weiter.

Wertschätzung für die Vereine

Bis eine Turnerin oder ein Turner erstmals als Richter im Einsatz steht, benötigt es meist zuerst einen mehrtägigen  Grundkurs. «Man darf nicht vergessen, wie viel Aufwand Vereine betreiben, damit sie an einem Turnfest oder an einer Schweizer Meisterschaft starten können. Da sind gut ausgebildete Wertungs- und Kampfrichterinnen auch ein wichtiges Zeichen der Wertschätzung gegenüber den Vereinen», sagt Philipp Moor. Damit das Gleichgewicht zwischen Richter und Vereinen stimmt, müssen die Leistungen beider auf Augenhöhe sein. «Schlecht ausgebildete Richter wären ein schlechtes Zeichen gegenüber den Vereinen», so Moor weiter. Damit die Vorführungen und Leistungen objektiv bewertet werden, sei eine hohe und qualitative Richterausbildung wichtig, sagt er.

Viele Richter bringen bereits eine gewisse Leidenschaft für ihre Sportart mit. «Man muss bereit sein, etwas mehr zu investieren», sagt Moor und ergänzt: «Diesen Aufwand anzunehmen, muss man sich bewusst sein.» Aus eigener Erfahrung sieht das heutige entralvorstandsmitglied aber auch viele positive Aspekte in der Richtertätigkeit. «Persönlich war es stets eine Bereicherung, an den Anlässen die Vorführungen an vorderster Front erleben zu können», sagt er und ergänzt: «Als Richter bist du mitten auf dem Wettkampfplatz, mitten im Geschehen dabei.» Hinzu kommen Einsätze an Schweizer Meisterschaften oder an anderen nationalen Anlässen. «Dort zu richten ist auch ein Privileg und Zeichen der Wertschätzung», sagt Moor.

Unter Richterinnen und Richtern wird der gegenseitige Austausch sehr geschätzt.
Als Richter ist man mitten auf dem Wettkampfplatz dabei.

Eigenes Netzwerk aufbauen

Wer als Richter amtet, baut sich ein grosses Netzwerk auf: «Man trifft andere Richter und tauscht sich aus.» Dieser Wissensaustausch findet dann den Weg in den eigenen Verein. Dieser Aspekt sei zu Beginn seiner Richter-Karriere auch ein Anreiz für ihn gewesen, sagt Philipp Moor. «Der Kontakt mit anderen Richtenden ergibt neue Sichtweisen.» Eine Erkenntnis, die Moor auch in den Ausbildungskursen festgestellt hat. «Es gab immer mehr junge Richter. Viele Leiterinnen oder Leiter stärken so zusätzlich ihr Knowhow und die Kompetenz in ihrer Sportart», sagt er.

Die Rollentrennung zwischen Richter und Aktivturnenden sei in den letzten Jahren mehr und mehr verschmolzen. «Der Nutzen von Richtern in den eigenen Vereinsreihen wurde erkannt», sagt Philipp Moor. Und dennoch ist er der Meinung, dass dieser Mehrwert den Vereinen noch besser vermittelt werden muss.

Schwierige Situation

Dass die Richtersituation zurzeit aber nicht in allen Disziplinen rosig ist, zeigen die Beispiele im Aerobic und in der Gymnastik. «In diesen beiden Sportarten haben wir eine schwierige Situation», bestätigt Jérôme Hübscher, Leiter Sportförderung beim Schweizerischen Turnverband. Der Mangel an Richterinnen und Richtern hängt einerseits mit der Corona-Situation zusammen. Ein weiterer Grund sei auch die Zunahme von Wettkämpfen, die wiederum zusätzliche Richterinnen erfordert. «Unsere Aufgabe wird es sein, den Vereinen und Turnenden aufzuzeigen, warum es sich lohnt, als Richtperson zum Turnsport beizutragen», sagt Hübscher: «Mit der Finanzierung der Ausbildung leisten wir als Verband bereits einen wichtigen Teil.»

Wie prekär die Richtersituation in den beiden genannten Sportarten ist, zeigt die Tatsache, dass bei vielen Anlässen zu wenige Wertungsrichterinnen zur Verfügung stehen. So können nicht alle Einsätze abgedeckt werden. Dies stellt unter anderem auch Judith Roost als Koordinatorin Wertungsrichter Gymnastik vor eine grosse Herausforderung. «Viele Wertungsrichter sind zwar bereit, einen Extra-Effort zu leisten. Dennoch gibt es in der Jahresplanung noch Lücken», betont Roost.

Absagen sind möglich

Jérôme Hübscher Leiter Sportförderung beim STV und Mitglied der Geschäftsleitung

Jérôme, was sind die Gründe für den Richtermangel in Aerobic und Gymnastik?

Jérôme Hübscher: Es gibt zwei Gründe. Einerseits Corona. Einige Richter haben die letzten Jahre genutzt, ihre Tätigkeit zu beenden. Zudem gab es während der Pandemie kaum Möglichkeiten, neue Richter auszubilden. Der zweite Grund ist der Beliebtheit von schätzbaren Disziplinen geschuldet. Neue Wettkämpfe sind entstanden. Diese erfordern auch zusätzliche Richter.
 

Welche Massnahmen wurden getroffen, um dem Negativtrend entgegenzuwirken?

Es sind diverse Massnahmen im Gespräch. Unter anderem sind zusätzliche Richterkurse geplant. Gerade in Regionen und in Sportarten, in denen ein Mangel besteht. Zu prüfen gilt es auch, ob von Seiten STV die Rahmenbedingungen, die bereits jetzt gut sind, angepasst werden müssen.
 

Welche Konsequenzen hat der Richtermangel auf den Turn-Betrieb?

An Schweizer Meisterschaften oder Turnfesten können wir die Richtereinsätze sicherstellen. Bei kleineren Anlässen kann es zu Abstrichen kommen. So sind Anlässe ohne Richter möglich. Im schlimmsten Fall kann es zu Absagen kommen. Wir setzen alles daran, dass nächstes Jahr alles wieder stattfinden kann.

«Wir sind am Limit»

Dies hat zur Folge, dass auch mit Kompromissen gerechnet werden muss. Eine Reduktion der Wertungsgerichte am Anlass ist eine von verschiedenen möglichen Szenarien. «Wir sind jetzt bereits am Limit. Die Situation ist prekär», betont Judith Roost. Für die grossen Anlässe, wie Schweizer Meisterschaften oder Turnfeste könne der Richterbedarf zwar sichergestellt werden. Andere Wettkämpfe oder Anlässe müssen jedoch allenfalls mit Abstrichen vorliebnehmen, meint auch Jérôme Hübscher.

Einen der Hauptgründe für die Richterknappheit sieht Roost auch in der Nicht-Durchführung von Ausbildungskursen während den letzten beiden Jahren. «Eine Neurekrutierung war wegen Corona kaum möglich», sagt sie. Hinzu kommen Terminkollisionen in gewissen Regionen. Finden Wettkämpfe am selben Tag statt, stellt dies die Einteilung vor eine Herausforderung. Gerade in Sportarten, in denen die Richterzahlen bereits verhältnismässig tiefer sind.

Viele Wertungsrichter sind für einen Extra-Effort bereit. Dennoch gibt es Lücken.
Judith Roost

Bessere Absprachen nötig

Trotz der derzeitigen Situation ist Jérôme Hübscher überzeugt, dass der Turnaround geschafft wird: «Die Corona-Jahre können wir zwar nicht ausradieren. Ich bin aber überzeugt, dass sich mit der Rückkehr zur Turnnormalität auch die Richtersituation entspannt.» Mit den Wettkämpfen werde man sich auch wieder die Fragen stellen, wie der eigene Verein besser werden kann, wie Leitende rekrutiert werden können und wie der eigene Verein zu Richtern kommt, glaubt Hübscher. Roost erhofft sich zudem, dass sich die kantonalen Verbände bei der Planung der Wettkämpfe zukünftig besser absprechen. So könnten Terminkollisionen vermieden werden. «Die Absprache und Koordination ist in der jetzigen Situation sehr wichtig», so Roost. Zudem sollen auch die Richterkurse in den Regionen verstärkt werden. Das Schreckensszenario, dass Wettkämpfe ohne Wertungsrichter stattfinden könnten, soll so umgangen werden. Denn keine Richter würde auch zur Folge haben, dass es keine Sieger geben würde. Der grösste Verlierer in dieser Geschichte wäre dann wohl der gesamte Turnsport.



Sie tun es meist aus Leidenschaft

Rund 5600 brevetierte Wertungsrichterinnen, Kampf- und Schiedsrichter sind beim STV registriert. Sie sind elementar, damit überhaupt Wettkämpfe stattfinden können. Stellvertretend dafür erzählen vier Personen, warum sie diese wertvolle Tätigkeit ausüben und wo die Herausforderungen liegen.

Viviane Keller-Gerschwiler

30, Richterin Team-Aerobic seit 2013, STV Sommeri

«2010 habe ich zusammen mit einer Kollegin das Team Aerobic in unserem Verein gegründet. Nachdem ich 2012 die Leiterausbildung und anschliessend das Wettkampfmodul gemacht habe, war für mich klar, dass ich auch Richterin werden möchte.

Einen Wettkampfsport gibt es nur, wenn es Richter gibt. Ausserdem stehe ich gerne auf dem Platz und erlebe so die Vielseitigkeit unseres Sports – nicht nur als Turnerin.

Zum einen profitiert mein Verein davon, dass ich als Wertungsrichterin die Weisungen genaustens kenne. Zum anderen ist es immer wieder schön, die Freude und Begeisterung für den Turnsport zu sehen. Wenn man dann noch eine schöne Note schreiben darf und die Vereine jubeln hört, weiss man, dass es den Aufwand wert ist.

Für mich persönlich liegt die grösste Herausforderung mittlerweile bei der Koordination. Ich turne selbst noch aktiv an Wettkämpfen, bin Wertungsrichterin und habe zuhause noch eine Familie. Gerade in den Monaten April, Mai und Juni sind alle Wochenenden ausgefüllt mit Turnen oder Werten – die Familie kommt da schon zu kurz.»

Daniela Löpfe

57, Richterin Gymnastik seit 2013, DTV Glattfelden

«2013 fand in unserem Damenturnverein ein Umbruch statt. Die Jüngeren wollten neu auch an Wettkämpfen teilnehmen. Dies war dann der Auslöser, dass ich die Ausbildung zur Wertungsrichterin Gymnastik absolvierte.

Erstens macht es mir riesigen Spass. Man lernt tolle Menschen kennen und bekommt wunderschöne Vorführungen zu sehen. Zweitens kann unser Verein dank meines Einsatzes an Wettkämpfen starten. Auch andere Vereine bekommen dadurch die Möglichkeit, sich zu messen.

Mit einer Wertungsrichterin im Verein ist dieser immer mit den neuesten Weisungen vertraut. Ich kann Tipps geben, was allenfalls an seiner Vorführung noch geändert werden sollte. Jeder Verein darf Wertungsrichter zu sich in die Halle holen, um sich Unterstützung zu holen.

Da die Turnfestsaison kurz und intensiv ist, kann es sein, dass man an einem Wochenende auf zwei verschiedenen Wettkampfplätzen steht. Die Tage können lang, heiss oder auch nass und stürmisch sein. Da braucht es einen guten Durchhaltewillen. Man muss auf vieles vorbereitet sein.»

Stéphanie Caillat

41, Richterin Gymnastik seit 2011, FSG Forel-Savigny Amigym

«An einem STV-Kurs hörte ich von der Richterausbildung. Da dachte ich, das ist das, was mir noch fehlt auf meinem Weg.

Zunächst einmal mache ich es, damit überhaupt Wettkämpfe stattfinden können. Richter, Turnende, Organisatoren sowie weitere bilden eine Einheit, ohne die es nicht geht. Ausserdem gibt es immer sympathische Momente. Man sieht Leute wieder, mit denen man vielleicht schon vor Jahren einmal zu tun hatte. Die Welt des Turnens ist klein.

Als Richterin verfüge ich über vertieftes Wissen der Gymnastikweisungen. Dieses ist wichtig, um eine Choreografie erstellen zu können, die etwas hergibt. Während des Trainings kann ich Tipps zur Ausführung geben, da ich einen anderen Blickwinkel als die Leiterin habe.

Ausserdem macht es Spass, die Arbeit der Turnenden und der Leitenden zu entdecken. Da zeigt sich eine grosse Vielfalt an unterschiedlichen Ideen und Visionen für ein und denselben Sport.

Herausfordernd ist es, den ganzen Tag konzentriert zu bleiben und im Hinterkopf zu behalten, dass optimal nicht perfekt bedeutet.»

Steven Gambarotto

30, Wertungsrichter Vereinsgeräteturnen seit 2018, FSG Ecublens Actigym

«Als logische Folge in meiner Turnkarriere und um den Leiterkollegen in meinem Verein FSG Ecublens Actigym zu helfen, habe ich die Richterausbildung gemacht. Ich engagiere mich, weil es ohne Richter keine Wettkämpfe für unsere Vereine gäbe. Ausserdem bekomme ich so Vorführungen zu sehen, in denen viele Emotionen und die Fantasie der Leitenden steckt.

Den Leitern unseres Vereins kann ich Tipps geben.

Die Herausforderung liegt darin, keinen Unterschied zu machen zwischen den einzelnen Vereinen, sondern alle objektiv und fair zu benoten.

Meinen ersten Einsatz an den Schweizer Meisterschaften Jugend im Tessin werde ich nie vergessen. Da folgte ein Höhepunkt auf den nächsten.»

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