Sportwissenschaften gewinnen an Bedeutung

  • 2. Juni 2023

  • Lara Rigamonti

  • Ulrich Känzig

  • Erschienen im GYMlive 2/2023

In den letzten Jahrzehnten hat im Sport das Interesse an wissenschaftlicher Unterstützung zugenommen. Damit soll unter anderem prozessbegleitende und evidenzbasierte Beratung zur Leistungsoptimierung und Prävention erzielt werden. Vor allem im Leistungssport stehen die Bewegungs- und Sportwissenschaften im Mittelpunkt des Interesses. Ein kleiner Überblick über das komplexe Thema.

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Stellt euch einen Moment lang den Sprung im Kunstturnen der Frauen vor: Konzentration, Anlauf, Sprung. Das Springen, ja, das kann ziemlich komplex sein. Der Anlauf scheint dagegen viel einfacher zu sein, aber gerade der Anlauf, diese mit äusserster Energie und Präzision ausgeführte Schrittfolge, ist entscheidend für den Sprung. Vergangene Untersuchungen haben bereits gezeigt, wie stark der Schwierigkeitswert eines Sprung mit den physischen Parametern zusammenhängt. Für eine Athletin oder Athleten ist somit entscheidend, das physische Training parallel zu den technischen Fähigkeiten weiterzuentwickeln.

Zahlreiche Variablen
Auf internationaler Ebene haben mehrere Sportverbände ihre Ressourcen im sportwissenschaftlichen Bereich erweitert und Projekte lanciert, in denen gewisse Daten gesammelt und analysiert werden, um die daraus gewonnenen Erkenntnisse in den Trainings einzubringen und so die Leistungen zu optimieren und die Prävention zu verbessern. Aber welche und wie viele Daten braucht es dafür? Auf welche Art? Über welchen Zeitraum hinweg? Die Variablen sind zahlreich und man muss den richtigen Weg finden.

Anlauf am Pferdsprung zur Bestimmung der kinetischen Energie (Translation, Rotation) während den verschiedenen Phasen (Absprung, 1. Flugphase, Abdruck, 2. Flugphase) des Pferdsprunges. Foto: Ulrich Känzig

Eine erste Etappe, um besser zu verstehen, welches der richtige Ansatz ist, besteht darin, bereits vorhandene Kenntnisse durch eine themenbezogene Literaturrecherche zu beschaffen. Idealerweise solche, welche die Sportart betreffen, in der man arbeitet. Dadurch ergibt sich ein Bild ĂĽber den aktuellen Forschungsstand beziehungsweise wo ForschungslĂĽcken vorhanden sind.

Der Schweizerische Turnverband (STV) hat vor Kurzem innerhalb der Abteilung «Olympische Mission», einen sportwissenschaftlichen Bereich geschaffen. Ziel ist es, diesen Ansatz – also das Sammeln und Analysieren von Daten – in den Trainingsbetrieb des Kunstturnen zu implementieren, um die die Trainingsgestaltung und Rahmenbedingungen zu optimieren. Dafür zuständig ist Caterina Barloggio, eine ehemalige Athletin des Kunstturn-Nationalkaders, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim STV tätig ist.

Neuen Bereich geschaffen

«Mit der Schaffung des neuen Bereichs soll die Wissenschaft näher an die Sportpraxis herangeführt werden. So dass die Informationen dorthin gelangen, wo sie benötigt werden, zu den Trainern in den Leistungszentren», erklärt Barloggio. Momentan liegt der Fokus auf dem Kunstturnen. Weil dies so umfangreich ist, wäre es fast unmöglich, andere Disziplinen miteinzubeziehen.

«Im Bereich der Leistungsdiagnostik gibt es zum Beispiel bereits standardisierte Tests, um die Kraft zu messen. Diese werden auf Platten mit Sensoren durchgeführt. Das ist ein Test, der regelmässig durchgeführt wird, den man noch stärker einsetzen möchte, um Ratschläge zu geben, wie man die explosive Kraft, die reaktive Kraft, verbessern kann», so Barloggio. Das Ziel der Sportwissenschaft ist es, auf der Grundlage der Daten, die gesammelt werden können, zu helfen, zu unterstützen und Ratschläge für das Training zu geben.

Bestimmung der Maximalkraft beim Element Kopfkreuz (Haltezeit 5 Sekunden) mittels Gegengewichtsgerät an den Ringen. Foto: Ulrich Känzig

Neue Aspekte entwickeln

Die Figur des «embedded scientist», einer Person, die weder Wissenschaftler noch Trainer ist, sondern eine Schlüsselfigur, die als Vermittler fungiert und dafür sorgt, dass bestimmte wissenschaftliche Konzepte an die Sportverbände weitergegeben werden und einen Mehrwert im täglichen Training darstellen, ist im Sportbereich zunehmend verbreitet. In der Schweiz beschäftigen viele Sportverbände, zum Beispiel im Fussball und im Skisport, bereits seit mehreren Jahren solche Personen, die nicht nur den Trainerinnen und Trainernn die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien näherbringen, sondern auch versuchen, neue Aspekte zugunsten der Strukturierung des Trainings zu entwickeln. «Das Ziel ist vor allem der Versuch, ein evidenzbasiertes und nicht erfahrungsbasiertes Training zu fördern», erklärt Barloggio.

 

Handlungsfelder

Mitte (weiss)

  • Trainingsbetrieb
  • Vergleiche Ist- und Soll-Zustand
     

Dienstleistungen (orange)

  • Direkte und prozessbegleitende UnterstĂĽtzung zur individuellen Optimierung der Leistung und Gesundheit. â€‹
  •  Leistungsdiagnostik
  • Wissenschaftliche Beratung â€‹
  • Präventive Massnahmen​

Forschung und Entwicklung (blau)

  • Neues relevantes Wissen generieren und Mehrwert fĂĽr die Weiterentwicklung der Sportart zu schaffen:
  • Forschungsprojekte​
  • Entwicklungen der Sportart​
  • Rahmenbedingungen fĂĽr Datenanalysen​
     

Lehre (grĂĽn) â€“ Wissen vermitteln und verwalten​:

  • Transfer der Informationen und Erkenntnisse an die Basis und Einspeisung ins System
  • Informationsmanagement
Wir versuchen, ein Training zu fördern, das auf evidenzbasierten Daten und nicht auf Erfahrungswerten beruht.
Caterina Barloggio Sportwissenschaftliche Mitarbeiterin beim STV

Prozess braucht Zeit

Einige Menschen sind offen für diese Thematik und informieren sich darüber, andere wiederum sind skeptischer. Das kommt alles auf die Einstellung und die Offenheit einer Person gegenüber Neuem an. Um eine gewisse Sichtweise zu ändern, braucht es Zeit. Dann braucht die Forschung an sich Zeit und die Analyse der Ergebnisse noch mehr. Alles in allem also ein langer Prozess. «Der Trainer muss bereit sein, das Training anders zu strukturieren, darüber nachzudenken, was er tut und Ratschläge anzunehmen», sagt Barloggio. Es ist kein Sprung ins kalte Wasser, da der Ansatz auf wissenschaftlich erhobenen Daten beruht. Aber es ist nicht sicher, dass die Änderung eines bestimmten Aspekts, die gerade auf der Grundlage wissenschaftlicher Ergebnisse vorgenommen wird, sofort positive Auswirkungen hat.

Es ist ein Entwicklungsprozess, vor allem ein mentaler. Das Turnen, wie der Sport im Allgemeinen, verändert sich mit der Zeit und mit den Athletinnen und Athleten, die es ausüben. Die angewendeten Methoden müssen regelmässig hinterfragt werden. Eine Methode mag heute funktionieren, doch man muss bereit sein, sie zu ändern, falls sie morgen nicht mehr ausreicht. Es ist also notwendig, auch in der Denkweise in Bewegung zu bleiben.

Das Wichtigste in KĂĽrze

  • Die Sportwissenschaft  ist  eine  interdisziplinäre  Wissenschaft,  die  sich  mit  Themen  im Bereich Sport und Bewegung auseinandersetzt. Zu den zahlreichen Einzeldisziplinen gehören unter anderem die Trainingswissenschaft, die Bewegungswissenschaft, die Sportmedizin, die Sportphysiotherapie, die Sportpsychologie, die Sportphysiologie und die Sporternährung. Der Zweck der Sportwissenschaft ist es, den Sport und das Sporttreiben der Menschen zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären.
  • Das Interesse an der Verbindung zwischen Sport und Wissenschaft bestand bereits in der Renaissance, aber erst Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Bereich der Sport- und Bewegungswissenschaften eigenständig.
  • Disziplinen, die mit den Bewegungswissenschaften in Verbindung stehen: Biomechanik, Sportpsychologie, Sporternährung, Sportdidaktik, Sportgeschichte, Sportökonomie und -ökologie, Trainingswissenschaft, Sportrecht

Studium im Bereich Sportwissenschaft

In der Schweiz bieten sieben Universitäten und eine Fachhochschule insgesamt etwa 25 Studiengänge an, die auf Sport-, Gesundheits- oder Bewegungswissenschaften ausgerichtet sind und die Möglichkeit bieten, einen Bachelor- oder Masterabschluss zu erwerben. Viele Studierende, die diese Studiengänge belegen, sind ehemalige Profi- oder Freizeitsportler, die nach dem Ende ihrer Sportkarriere ihre Leidenschaft für den Sport im Rahmen ihres Studiums fortsetzen. «Es gibt viele ehemalige Sportlerinnen und Sportler, die ein Sportstudium absolvieren und dann in ihrer Sportart einen Job finden», so Caterina Barloggio. In der Regel sind dies alles sportbegeisterte Studierende und es ist klar, dass es von grossem Vorteil ist, bereits eine Sportart ausgeübt zu haben. Mögliche Berufsaussichten sind Sportpsychologie, Sportjournalismus, Coaching, Sporttherapie, (Sport-)Tourismus und Management im Sport.
 

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