Vereinsfusionen: eine Chance mit Herausforderungen

  • 21. März 2025

  • Simon Keller

  • zvg

  • Erschienen im Gymlive 1/2025

In der Schweiz sehen sich zahlreiche Sportvereine mit wachsenden Herausforderungen konfrontiert. Rückläufige Mitgliederzahlen, Schwierigkeiten bei der Besetzung von Vorstandsämtern und finanzielle Engpässe setzen die Vereinsstrukturen zunehmend unter Druck. Vor diesem Hintergrund gewinnen Vereinsfusionen an Bedeutung, um nachhaltige Lösungen zu schaffen.

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Fusionen bieten die Chance, Ressourcen zu bündeln und so die Effizienz von Vereinen zu steigern. Gemeinsame Infrastrukturen, ein zentralisierter Vorstand und die Reduktion von organisatorischen Doppelspurigkeiten führen zu einer deutlichen Entlastung. Markus Hochstrasser, Präsident des TV Roggwil, beschreibt, dass die Arbeit im Vorstand nach der Fusion​​​​​​​ erheblich vereinfacht wurde: «Vor der Fusion mussten wir alle Aufgaben viermal organisieren – das gehört nun der Vergangenheit an.» Auch im TV Seen wird erwartet, dass eine Fusion den administrativen Aufwand reduziert, da viele Prozesse nicht mehr parallel ablaufen müssen.

Illustration: Janine Manns

Ein weiterer Vorteil liegt im Ausbau der Angebote. Durch die Verschmelzung der Strukturen entsteht oft ein vielfältigeres Programm, das eine grössere Zielgruppe anspricht. Dies ist besonders attraktiv für Kinder und Jugendliche, die von qualitativ hochwertigeren Trainings und stabileren Strukturen profitieren. Der TV Roggwil hat diesen Effekt deutlich gespürt: Nachwuchssportlerinnen und -sportler finden in einem grösseren Verein nicht nur ein breiteres Angebot, sondern auch langfristige Perspektiven. Gleichzeitig stärkt ein solcher Zusammenschluss das Gemeinschaftsgefühl – sei es durch gesellige Anlässe oder durch ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Gemeinde.

Vor der Fusion mussten wir alle Aufgaben viermal organisieren – das gehört nun der Vergangenheit an.
Markus Hochstrasser Präsident TV Roggwil

Herausforderungen: Identität und Tradition bewahren

So vielversprechend die Vorteile auch sein mögen, die Bedenken vieler Mitglieder zeigen, dass Fusionen keine einfache Entscheidung sind. Ein häufig genannter Kritikpunkt ist der Verlust von Identität. Ältere Mitglieder befürchten, dass jahrzehntelange Traditionen und spezifische Werte der Vereine auf der Strecke bleiben könnten. Michael Binder, Präsident des TV Seen, weist darauf hin, dass vor allem ältere Mitglieder Schwierigkeiten haben, sich von bestehenden Strukturen zu lösen: «Die Jungen wollen einfach turnen – für sie ist der Vereinsname nicht entscheidend. Doch die älteren Generationen hängen emotional stark an ihren Vereinen.»

Ein anschauliches Beispiel ist das sogenannte Riegenkässeli, eine eigenständige Kasse für bestimmte Abteilungen, die im TV Roggwil vor der Fusion eine grosse symbolische Bedeutung hatte. Die Abschaffung dieser individuellen Kassen stiess auf Widerstand, konnte jedoch durch transparente Kommunikation überwunden werden. Markus Hochstrasser erinnert sich: «Wir mussten klarstellen, dass eine zentrale Finanzstruktur unverzichtbar ist, um die Fusion erfolgreich umzusetzen.»

Die Jungen wollen einfach turnen – für sie ist der Vereinsname nicht entscheidend. Doch die älteren Generationen hängen emotional stark an ihren Vereinen.
Michael Binder Präsident TV Seen

Ein weiteres Hindernis ist die Harmonisierung unterschiedlicher Vereinsphilosophien. Während in einigen Bereichen bereits vor der Fusion eine Zusammenarbeit bestand – etwa bei Turnfesten oder Jugendwettkämpfen – gab es andere Felder, in denen separate Strukturen tief verwurzelt waren. Der TV Roggwil entschied sich daher, in bestimmten Bereichen wie dem polysportiven Training traditionelle Trennungen beizubehalten, um den Bedürfnissen der Mitglieder gerecht zu werden.

Turnverein Roggwil

Markus Hochstrasser (48)

Präsident TV Roggwil (BE) seit 2022 (vorher schon mal von 2004 bis 2010)

War Leiter der Arbeitsgruppe Fusion und übernahm dann nach der Fusion zum zweiten Mal das Präsidium des fusionierten Vereins.

Fusion:
STV Roggwil, DTV Roggwil, Frauenturnverein und Männerriege (selbstständige Riege des STV) zu TV Roggwil

Kommunikation: Der SchlĂĽssel zum Erfolg

Die Bedeutung einer offenen und transparenten Kommunikation zieht sich wie ein roter Faden durch beide Erfahrungsberichte. Die Fusion des TV Seen und des Damenturnvereins Seen wird von Anfang an von intensiven Gesprächen und Workshops begleitet, bei denen die Mitglieder aktiv einbezogen werden. Michael Binder betont: «Wir haben aus früheren Fehlern gelernt. Transparenz und Kommunikation sind entscheidend, um die Mitglieder mitzunehmen.» Aus diesem Grund hat der Verein auch eine Arbeitsgruppe zur Prüfung einer allfälligen Vereinsfusion eingesetzt. Diese Arbeitsgruppe besteht aus Vertretern aller Riegen beider Vereine und hat im September und Dezember 2024 ihre ersten Sitzungen abgehalten. Unterstützt wird sie dabei von Stefanie Bütler, Leiterin des Bereichs Vereinsmanagement & Richterausbildung beim Schweizerischen Turnverband (STV). Die externe Hilfe sei sehr wertvoll, so Binder.

Transparenz und Kommunikation sind entscheidend, um die Mitglieder mitzunehmen.
Michael Binder Ăśber den SchlĂĽssel zum Erfolg bei Vereinsfusionen

Auch im TV Roggwil spielte die Einbindung der Mitglieder eine zentrale Rolle. Workshops, in denen Fragen und Ängste offen thematisiert wurden, halfen, Widerstände abzubauen und den Weg für den Zusammenschluss zu ebnen. Die Arbeit in interdisziplinären Teams aus Vertretern aller betroffenen Vereine trug dazu bei, dass die Entscheidungen auf einer breiten Basis getroffen wurden.

TV Seen

Michael Binder (29)

Präsident TV Seen seit 2019

Mitglied der Arbeitsgruppe Fusion, die eine allfällige Fusion für das Jahr 2026 plant

Geplante Fusion:
Turnverein mit Turn-, Fitness-, Männer- und Veteranenriege und Damenturnverein mit Damenriege, Frauenriege 1&2 und Seniorinnen

Ein langer Weg zur Einigung

Die praktische Umsetzung einer Fusion erfordert Zeit und Geduld. Im Fall des TV Roggwil dauerte der Prozess mehrere Jahre und wurde durch die Corona-Pandemie zusätzlich erschwert. Doch das Engagement zahlte sich aus: «Der erste Moment, in dem wir uns wirklich als ein Verein gefühlt haben, war die gemeinsame Turnunterhaltung», so Hochstrasser. Dieser Anlass symbolisierte den erfolgreichen Zusammenschluss und zeigte, dass die Fusion nicht nur eine organisatorische Veränderung war, sondern ein neues Kapitel im Vereinsleben.

Der erste Moment, in dem wir uns wirklich als ein Verein gefĂĽhlt haben, war die gemeinsame Turnunterhaltung.
Markus Hochstrasser Ăśber die Bedeutung eines symbolischen Neubeginns

Auch im TV Seen steht noch viel Arbeit bevor. Eine Umfrage unter den Mitgliedern soll zu Beginn des Jahres 2025 weitere Einblicke in die Bedürfnisse und Bedenken geben. Die Fusion soll im Jahr 2026 beschlossen werden. Binder sieht den Prozess jedoch optimistisch: «Wenn wir es schaffen, alle Mitglieder ins Boot zu holen, können wir gemeinsam eine zukunftsfähige Lösung schaffen.»

Pro und Contra Fusionen

Positive Auswirkungen von Fusionen

  1. RessourcenbĂĽndelung:
    • Vereine können durch Fusionen ihre finanziellen und organisatorischen Ressourcen bĂĽndeln.
    • Kleinere Vereine profitieren von gemeinsamen Infrastrukturen und teilen die Kosten fĂĽr Trainer, Wettkämpfe und AusrĂĽstung.
  2. Vielfältiges Angebot:
    • Durch Fusionen können breitere Sport- und Freizeitangebote entstehen, die Mitglieder unterschiedlichen Alters und Geschlechts ansprechen.
    • Spezialisierte Vereine können polysportive Angebote integrieren und somit eine grössere Zielgruppe ansprechen.
  3. Mitgliedergewinnung und Nachwuchsförderung:
    • Grössere Vereine sind attraktiver fĂĽr Kinder und Jugendliche, da sie stabilere Strukturen und qualitativ hochwertigere Trainings anbieten.
    • Fusionierte Vereine weisen oft höhere Jugendanteile auf, was langfristig die Vereinsnachfolge sichert.
  4. Stärkung des Gemeinschaftsgefühls:
    • ZusammenschlĂĽsse fördern das ZusammengehörigkeitsgefĂĽhl in Gemeinden, da Mitglieder verschiedener Alters- und Interessengruppen zusammenkommen.
    • Gesellige Aktivitäten wie Feste und AusflĂĽge werden erfolgreicher organisiert, wenn ein grösserer Mitgliederpool vorhanden ist.

Herausforderungen von Fusionen

  1. Identitätsverlust:
    • Mitglieder kleinerer Vereine befĂĽrchten oft, dass Traditionen und spezifische Werte verloren gehen.
    • Die Verschmelzung von unterschiedlichen Vereinsphilosophien kann zu Konflikten fĂĽhren.
  2. Organisatorische Komplexität:
    • Die Struktur grösserer fusionierter Vereine wird komplexer, was den administrativen Aufwand erhöht.
    • Die Harmonisierung von Mitgliedsbeiträgen, Vereinsregeln und Leitbildern erfordert Zeit und Verhandlungsgeschick.
  3. Soziale Anpassung:
    • Die Integration neuer Mitgliedergruppen kann schwierig sein, insbesondere wenn kulturelle oder sportliche Präferenzen stark differieren.
    • Langjährige Mitglieder können sich durch neue Ausrichtungen entfremdet fĂĽhlen.

Fazit: Eine zukunftsweisende Entscheidung

Vereinsfusionen sind keine einfache Aufgabe – sie erfordern Fingerspitzengefühl, Kommunikationsstärke und die Bereitschaft, alte Strukturen zu hinterfragen. Doch die Erfahrungen des TV Seen und des TV Roggwil zeigen, dass Fusionen eine vielversprechende Möglichkeit sind, um Herausforderungen zu meistern und Vereine nachhaltig zu stärken.

Am Ende geht es darum, Traditionen und Innovationen in Einklang zu bringen. Wenn es gelingt, die Mitglieder zu ĂĽberzeugen und ihnen eine Perspektive zu bieten, wird die Fusion nicht nur eine strukturelle, sondern auch eine kulturelle Bereicherung fĂĽr das Vereinsleben sein.

Vertiefend zum Thema das Gespräch mit Sportwissenschaftler Siegfried Nagel

Er spricht ĂĽber die Herausforderungen und Chancen fĂĽr Sportvereine fĂĽnf Jahre nach der Pandemie. Warum sie stabil geblieben sind, wie Professionalisierung gelingen kann und welche Rolle Ehrenamtlichkeit dabei spielt.

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