Vereine mĂĽssen in Bewegung bleiben

  • 9. Juni 2022

  • Mareike Fischer / Klarkom AG

  • zvg

  • Erschienen im GYMlive 2/2022

Sind Turnvereine in unserer individualisierten, digitalisierten Gesellschaft noch zeitgemäss? Ja, sagt Sportwissenschaftler Siegfried Nagel. Wenn sie ihr Potenzial ausschöpfen: mit der Zeit gehen, Tradition mit Innovation verbinden – und offen für Diversität sind.

Zur Person

Prof. Dr. Siegfried Nagel

(53) studierte an der Universität Tübingen Sportwissenschaft und Mathematik. Schon seine Habilitation 2005 befasste sich mit Sportvereinen im Wandel. 2008 trat er eine Professorenstelle am Institut für Sportwissenschaft der Universität Bern an; seit 2016 ist er Direktor des Instituts. Aktuell befasst er sich mit Fragen der Teilhabe, Integration und Inklusion im Sport sowie der Ehrenamtlichkeit und Professionalisierung in Sportvereinen und -verbänden. Nagel ist amtierender Präsident der Sportwissenschaftlichen Gesellschaft der Schweiz (SGS). Der Wissenschaftler ist ein begeisterter Skilangläufer und hat in der Schweiz Orientierungslauf als faszinierende Sportart entdeckt.

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Siegfried Nagel, während der Corona-Pandemie haben viele Menschen angefangen, allein Sport zu treiben. Hat das Konzept Turnverein mit fixen Trainingszeiten ausgedient?

Siegfried Nagel: Im Gegenteil: Gerade die letzten zwei Jahre haben gezeigt, wie wertvoll soziale Kontakte fĂĽr uns sind. Turnvereine bieten die Möglichkeit, Freundschaften zu knĂĽpfen und zu pflegen. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft ist eines der wichtigsten Motive, sich in einem Verein zu engagieren.
 

Und abgesehen vom sozialen Aspekt?

Es ist viel motivierender, in der Gruppe Sport zu treiben. Ich werde angeleitet und kann mich verbessern. Damit ich einen positiven Effekt spüre, muss ich dranbleiben. Und da ist im Turnverein die Bindung stärker: Menschen gehen regelmässig zum Training, weil der Termin in der Agenda steht. Ein Hometrainer zu Hause hingegen wird meist mit grossem Anfangsenthusiasmus ausprobiert – und wenig später steht er als Garderobenständer in der Ecke.
 

Jugendliche nutzen den Turnverein als Alternative zum teuren Abo im Fitness-Studio.

Ja, das ist durch Zahlen belegt: Etwa die Hälfte der 10- bis 19-Jährigen in der Schweiz ist in einem Sportverein. Der Jahresbeitrag ist günstig. Die Jungen schätzen auch, dass sie dort Gleichaltrige – oder ganz unkompliziert mal ihren Schwarm – treffen können. Oft unterstützen die Eltern die sportliche Aktivität im Verein, gerade, wenn sie selbst Mitglied sind. Denn es geht ja nicht nur um die bewegungsaktive Freizeitgestaltung. Vereine haben ebenso ein hohes Potenzial für Integration, Sozialisation, Werteentwicklung und Gesundheitsförderung.

Turnvereine bedienen die Sehnsucht nach Gemeinschaft auch heute noch.

Das hört sich ziemlich abstrakt an.

Konkret heisst das: Kinder und Jugendliche lernen Fairplay, Werte und Normen kennen. Sie machen die Erfahrung, etwas bewirken zu können, indem sie mitmachen, mithelfen, mitverantworten. Schon 16-Jährige leiten Kurse oder organisieren Veranstaltungen. Sie üben, einen Antrag zu formulieren und an einer GV vorzutragen. In meinen Augen sind Turnvereine deshalb wahre ‹Schulen der Demokratie›.
 

Ein riesiger Anspruch! Aber kommt das so rĂĽber? Haben Turnvereine nicht ein etwas angestaubtes Image?

Natürlich hat der Begriff Turnen eine lange Tradition. Ins Fitness oder zum Training zu gehen, klingt vielleicht für manche Leute zeitgemässer. Die Vereine könnten aber durchaus gezielt ihre Kommunikation attraktiver gestalten. Die eigene Website beispielsweise lässt sich heute rasch überarbeiten. Gerade hier kann ruhig der Nachwuchs eingebunden werden – und auch für den Einsatz von Social Media.
 

Dann gibt es Instagram-Selfies aus der Turnhalle?

Warum nicht? Mit einem frischeren Auftritt allein ist es aber nicht getan. ‹Das machen wir seit 30 Jahren so und es bleibt dabei› – diese Haltung sollte ausgedient haben. Vorstände und Aktive müssen bereit sein, Vereinsstrukturen zu überdenken. Neue Modelle zu erarbeiten, wenn es um Führung, Administration, Kurswesen, Ehrenamtliche oder bezahlte Tätigkeiten geht. Es muss auch innerhalb des Vereins eine offene Gesprächskultur geben, eine Bereitschaft zum Wandel und Aufgeschlossenheit gegenüber Diversität.

Schweizer Sportvereine in Zahlen

  • 2 Mio.Mitglieder sind aktiv dabei
  • 19'000 Sportvereine gibt es etwa in der Schweiz
  • 25'000 Stunden Sport finden in der Schweiz täglich in öffentlichen Anlagen statt
  • 335'000 Ehrenamtliche engagieren sich in ihrer Freizeit
  • 41 Prozent der Vereine nennen die vergebliche Suche nach Funktionären als existenzbedrohende Sorge

Wie tragen Schweizer Turnvereine zur Integration bei?

Es heisst, Vereine seien der soziale ‹Kitt der Gesellschaft›. Trotzdem gelingt es häufig nicht, Menschen mit Migrationshintergrund – vor allem Frauen und Mädchen – oder Menschen mit Beeinträchtigung richtig zu integrieren. Turnvereine sind keine Sozialoasen. Auch hier kann es Mobbing, Diskriminierung oder Missbrauch geben. Deshalb braucht es hinsichtlich Integration in besonderem Masse Sensibilität und Toleranz: Es kann nicht erwartet werden, dass alle Schweizerdeutsch im regionalen Dialekt sprechen, sondern es braucht Offenheit fĂĽr sprachliche und kulturelle Vielfalt.
 

Gibt es in Bezug auf die Vereine einen Stadt-Land-Graben?

Auf dem Land sind die Vereine noch immer prägend. Fast jeder Dritte ist dort in einem Sportverein. In der Stadt, wo es viele kommerzielle Anbieter wie Fitnesscenter, Yogaschulen oder Kletterhallen gibt, ist es nur etwa jeder FĂĽnfte. Tatsächlich sind die grösseren Turnvereine in den Städten sehr offen fĂĽr Trends und entwickeln attraktive Angebote. Das soziale Leben findet aber eher anderswo statt.

Trotz hoher Wertschätzung in der Gesellschaft stehen die Vereine jedoch überall vor den gleichen Herausforderungen: Mitgliedergewinnung und Ehrenamtlichkeit. Die Individualisierung, die wachsende Dienstleistungsorientierung und Kundenmentalität unserer Gesellschaft passen nur bedingt zu den traditionellen Strukturen des Sportvereins.
 

Was tun? Wie können wir das Ehrenamt stärken?

Wer sich im gemeinschaftlichen Interesse eines Vereins engagiert, fĂĽr den ist Wertschätzung zentral. Freiwillige wollen aber auch etwas bewirken: ĂĽber das ‹Warum› und Ziele mitentscheiden – und nicht nur zudienen und ausfĂĽhren. Jugendliche, die sich beispielsweise im Kurswesen engagieren, sind schrittweise an ihre Aufgaben heranzufĂĽhren. Ihnen die Sicherheit geben, dass ein Team hinter ihnen steht, dass sie unterstĂĽtzt werden und auch Fehler machen dĂĽrfen. Und: Eine kleine Entschädigung der Ehrenamtlichen kann sicher nicht schaden.
 

Und was die Vorstandsarbeit angeht?

Ämter und Verantwortlichkeiten können im Job-Sharing geteilt werden. Ein Co-Präsidium lässt sich besser mit familiären und beruflichen Verpflichtungen verbinden. Auch in der Vereinsarbeit lassen sich die Vorteile der Digitalisierung nutzen, zum Beispiel Sitzungen mal online abhalten, um Zeit und Wege zu sparen. Zudem sollte ein Verein keine Berührungsängste haben, gewisse Bereiche zu professionalisieren.

Ein Ehren- oder Vorstandsamt muss zeitlich ĂĽberschaubar sein.

Das heisst bezahlte Arbeit? Widerspricht das nicht dem Vereinsgedanken?

Natürlich braucht es Freiwillige, die sich solidarisch verhalten und Verantwortung übernehmen. Grössere Vereine könnten aber administrative Tätigkeiten im Vereinsmanagement als Teilzeitstellen auslagern. Oder für Sportangebote auf einem hohen qualitativen Niveau ausgebildete Trainerinnen und Trainer engagieren und bezahlen: zum Beispiel im Bereich der Gesundheitsförderung. Wichtig ist, dass solche Dinge von den Mitgliedern offen diskutiert und transparent beschlossen werden.
 

Stichwort Gesundheitsförderung: Gibt es genügend Vereinsangebote für die Generation 50+?

Turnen ist vielseitig und eine gute Basis, um im Alter fit und beweglich zu sein. Meiner Ansicht nach gibt es in den Vereinen für die ältere Generation viele Möglichkeiten. Gut ist es, wenn die Vereine auch ausserhalb von Leistungsund Wettkampfsport spezifische Kurse für Gesundheit und Wohlbefinden anbieten, zum Beispiel, um Rückenproblemen vorzubeugen oder das Herz-Kreislauf- System zu trainieren.
 

Was ist fĂĽr die Zukunftsfitness der Vereine noch entscheidend?

Offenheit in allen Beziehungen. Vereine müssen aufgeschlossen sein für neue Personengruppen. Für Trends und die Entwicklung neuer Angebote: Manchmal reicht schon eine kleine Variation, um traditionelle Sportarten moderner wirken zu lassen. Zudem muss das Training nicht nur zu klassischen Vereinszeiten wochentags nach Feierabend stattfinden: Die Turnhalle kann auch am Wochenende offen sein – oder man trifft sich andernorts. Eine gute Idee ist es auch, mit anderen Vereinen zu kooperieren, um Synergien zu schaffen. Warum nicht ein gemeinsames polysportives Angebot für Kinder entwickeln? Und die Kräfte bündeln bei Öffentlichkeitsarbeit, Mitgliederverwaltung und Interessenvertretung?
 

«Wir ermöglichen schweizweit Sport, Bewegung und Erlebnisse für alle, um Gemeinschaft und Wohlergehen zu schaffen.» Was raten Sie dem Schweizerischen Turnverband zur Umsetzung dieses Wertversprechens?

Eine stärkere Qualitätsorientierung des Angebots und eine Professionalisierung der Strukturen sind kein Widerspruch zum Vereinsgedanken. Der Schweizerische Turnverband kann hier sicher entsprechende Programme, Tools, Aus- und Weiterbildungen anbieten. Wenn er die Vereine an die Hand nimmt und Wege aufzeigt, wie sich Tradition mit Innovation und Diversität verbinden lassen, werden die Vereine ihr gesellschaftlich relevantes Potenzial in Zukunft noch besser ausschöpfen, Mitglieder gewinnen und halten können.

STV-Vereinsmanagement

In den STV-Vereinsmanagement-Ausbildungen erlernen aktuelle Vorstands- und OK-Mitglieder spezifische Werkzeuge und Inhalte für eine effizientere Vereinsarbeit. Dank des Austausches mit anderen Vereinsfunktionären können sie von neuen Lösungsansätzen und einem erweiterten Netzwerk profitieren. Speziell auf das Thema Innovationen ausgerichtet ist das Workbook «Sportverein 2030». Dieses zeigt den Vereinen auf, wie sie sich rüsten können, um auch in Zukunft weiterbestehen zu können.

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